Guglielmo Plüschow, Wilhelm von Gloeden.

Mecklenburgische Fotogeschichte aus dem Exil. Von der Ostsee bis zum Mittelmeer und zurück.

*Der Fluch der Fotografie ist dabei ihre Direktheit, die alles Malerische entkräftet. Ein nackt fotografierter Junge wird trotz seiner antikisierenden Pose immer ein nackt fotografierter Junge bleiben und wirkt immer erst einmal abstoßend bevor die Einbildungkraft eine Skultpur erkennen lässt. Für mich als Fotograf der Gegenwart, der sich der Medienreflexion verschreibt, beweist das Beispiel Wilhelm von Gloeden und Guglielmo Plüschow, dass es die Abbildung der Realität bis heute schwer hat, ins Kunstverständnis überzugehen. Aber Fotografie kann aufgrund ihrer Alltagsnähe den Alltag irritieren und das macht es spannend. Einen Kunstbezug bekommen Gloedens-Fotografien mindestens als Vorlage für Maler und Bildhauer oder wenn sie von Künstlern übermalt oder nachgezeichnet werden, aber die Fotografie an sich und die Darstellung echter Jünglinge behält damals wie heute einen gewaltigen Touch, der bereits zu Lebzeiten für Verurteilungen und Zerstörung der Original-Negative sorgte. Diese Ausstellung ist weder Protest noch Anklage oder gar Verherrlichung, sie ist ein wichtiges Zeitzeugnis über Fotografie und setzt den so wichtigen Pionieren der Aktfotografie Wilhelm von Gloeden und Guglielmo Plüschow ein Denkmal in Ihrem Heimatland Mecklenburg. Wilhelm von Gloedens Fotografien waren und bleiben ein wunder Punkt, auch wenn wir im Digitalzeitalter längst alle Hüllen fallen lassen und Fotografie mehr dennje einen pornografischen Umgang pflegt, von dem sich Gloeden Zeit seines Lebens distanzierte, in dem er seine nackten Epehmen in Poesie und Erzählungen hüllte. Er liebte (emotional), was er sah und schuf Ikonen. Unsere nicht-ikonischen Fotos von heute sind lieblos und buhlen um Anerkennung (wie kann man geliebt werden, wenn man sich selber nicht liebt?), Gloedens Fotos sind voller Liebe für das Leben, sie sind Musik und sie beweisen, dass Gloeden ein Künstler war. Seine Fotografien sind Erinnerungsstücke an diesen Künstler, der einen Realraum geschaffen hatte.

Der Kurator

Im Digitalzeitalter unserer entabusierten Selbstentblößung möchte ich als Fotograf des 21. Jahrhunderst mit dieser Veröffentlichung einen Blick zurück ins 19. Jahrhundert werfen auf die Anfänge des uns heute beherrschenden Mediuns, das uns unbemerkt überallhin (ver-)folgt. Diese Auseinandersetzung mit mecklenburgischer Fotogeschichte ist eine Liebeserklärung an die Fotografie als Musik, als Rythmus, als poetisches Fragment hinfort zu höhren Sphären, die mehr ist, als man sieht…


Diese Online-Ausstellung unternimmt eine fotografische Zeitreise von der mecklenburgischen Ostseeküste ins mediterrane Italien, wohin die in Wismar verwurzelten und miteinander verwandten (familiär wie künstlerisch) Fotografen Guglielmo Plüschow und Wilhelm von Gloeden um 1870 in ihr exotisches Exil gingen, um den gesellschaftlichen Zwängen und einer immer stärker heranwachsenden Industrienation, mit der damit für sie einhergehenden Sinnentleertheit, zu entkommen.

Als befreite Gegenwelt schufen sie sich und ihren Anhängern ein sinnliches Fluidum: ein kunstvolles Idyll nach arkadischem Vorbild in den Ruinen archaischer Welten, welche sie vorrangig in Neapel, Rom (Plüschow) und dem damals noch weitestgehend unberührten Bergdorf Taormina (von Gloeden) vorfanden, wohin sie ihren Lebensmittelpunkt verlagerten und von wo aus sie ihre antikisierenden Fotografien auf mobilen Trägermaterialien (handbelichtete Papierabzüge, Kunstdrucke und Postkarten / eine Zeit ohne Instagram) in die Welt hinausschickten.

Ihre unter der Lichtquelle des sonnenerfüllten Südens in malerischer Kulisse entstandenen Abbildungen fleischgewordener Skulpturen träumen ein paradiesisches Bild vom einfachen Hirtenleben in freier Natur und stellen das Individuum in den Fokus entgegen des zur Masse verschwimmenden Menschen in den industrialisierten und von der Armee des Kaiserreichs geprägten Großstädten ihrer Heimat, in welchem das Militär den immer rauer und die Maschine den immer schneller werdenden Takt vorgaben. Guglielmo Plüschow und Wilhelm von Gloeden entkräften diese Tendenz, ihr Leitbild ist die griechisch-römische Vorzeit und die friedliche Urphase des Goldenden Zeitalters. Sie fantasieren sich fort aus ihrer zivilisierten Zeit hin zu einem physischen Traum der Antike, wofür Wilhelm von Gloeden besonders seine Wahlheimatstadt Taormina als ideale Kulturstätte erkannte, herrschten hier doch einst die Griechen und Römer selbst. Er sah in den Dorfbewohnern, welche ihm als Models dienten, die Nachfahren jener Antike, welche ihn so reizte und welche er in alter Manier zu lebenden Bildern erweckte.

Der Mensch wird vor der Kamera der Fotografen als Schöpfung verehrt und zum Kunstwerk stilisiert, die vielfach gezeigte Nacktheit transportiert dabei eine tiefe Wahrheit, die die dargestellten Personen ihrem Umstand in eine göttliche Würdigkeit entheben und sie zeitlos erscheinen lassen, ohne dabei die Identität des jeweiligen Models zu verleugnen. Durch das Hinzufügen symbolträchtiger Requisiten sowie denen der Malerei und Plastik entlehnten Körperhaltungen hüllen sie ihre vielfach entkleideten Figuren hinein in jene kultivierte Fantasiewelt: ein einfacher* Arbeiterjunge wird zum römischen Kaiser gekrönt, ein weiterer zur Madonnenikone verheiligt, eine ganze Gruppe Jugendlicher zu einem Gemälde nach Lawrence Alma-Tadema arrangiert, ein Mädchen zu einer Romanfigur nach Johann Wolfgang von Goethe verklärt und immer wieder findet man die kunstvoll inszenierten Körper direkt neben ihren Vorbildern aus Bronzestatuetten oder vor antiken Kulturplätzen postiert. Sie werden zu Helden der Mythologie.

* “Bauernvolk, edler als der Adel. Meine jungen Models hatten härtere Jobs als die eines Models: sie waren kühne, kleine Fischer, Mechaniker, die in Garagen beschäftigt waren, Maurer, Tischler, Schuster.”
Wilhelm von Gloeden


Wie ihre Künstlerzeitgenossen des Fin de Siècle erheben Plüschow und von Gloeden das Leben zur Dichtung, lassen griechische Mythologie aufleben und übersetzen die künstlerische Strömung um die Jahrhundertwende in das ihrerzeit junge Medium der Fotografie. Sie bedienen sich der modernen Technologie (auch aus Unvermögen ihres malerischen Talents) zur fotorealistischen Darstellung antiker Lebensweisen und polarisieren durch ihren rückwärtsgewandten und von Liebe beseelten Blick auf den Ursprung menschlichen Seins: nackte Geschöpfe im Spiel und im Einklang mit der Natur. Ein rebellischer Scharfsinn innerhalb der sich zuspitzenden Zivilisation einer tugenhaften und zugeknöpften Gesellschaft, die diese Bildwelten zu Gesicht bekam, jedoch anstelle von Empörung bei vielen eine tiefmenschliche Sehnsucht auslösten.

Statt dem geschriebenen Wort, der gepinselten Farbe oder dem behauenen Stein nutzen Guglielmo Plüschow und Wilhelm von Gloeden das natürliche Leib und Lebensumfeld nicht nur als Vorlage und Studie, sondern als autarkes Motiv für ihre auf Glasplatte fixierten Tableau Vivants und leisten damit eine wegbereitende Pionierarbeit für die Fotografie hin zum eigenständig-künstlerischen Medium*, welches über das reine Handwerk entscheidend hinausgeht. Die anverwandten Fotografen übertreiben bewusst die Realität durch schwülstige Inszenierung für die Kamera und erschaffen dadurch die Kraft eines (künstlerischen) Bildes entgegen einer bloßen Wiedergabe der Wirklichkeit. Sie bringen die Kunst in die Realität (lassen Gemälde und Skulpturen zur Wirklichkeit werden) und fixieren ihre realisierte Fantasie wiederum mittels der Fotografie.

Die Fotografie, die die vermeintliche Wirklichkeit abbildet, irritiert auf diese Weise die (damals noch ungeübte) Wahrnehmung (dieses neuen Mediums) und schafft obendrein eine Schnittstelle zwischen Bildraum und realem Raum, was zu jener Zeit die Erfüllung eines tatsächlich existierenden Paradieses versprach. Ein Versprechen, das viele Besucher*innen aus aller Herren Länder an die Bildquelle bis nach Sizilien lockte, um sich des Traumes körperlich zu nähern, darunter den deutschen Kaiser Wilhelm II. und Industriellen Alfred Friedrich Krupp.

Guglielmo Plüschow und Wilhelm von Gloeden öffnen dem Betrachter die Augen für das Paradies auf Erden. Fiktion trifft bei ihnen auf Realität, Realität auf Fiktion.

In der internationalen Kunstgeschichte ein fester Begriff, schlägt diese Ausstellung einen Bogen, um den beiden mecklenburgischen Landeskindern die Reverenz zu erweisen und die regionalen Bezüge umfangreich zu beleuchten.

Guglielmo Plüschow und Wilhelm von Gloeden, zwei schillernde Künstlerpersönlichkeiten des Fin de Siècle, die trotz ihrer Ausreise stets engen Kontakt nach Hause hielten, wo sie nicht zuletzt ein wichtiges Publikum fanden für ihre als Sehnsuchtsort geschaffene Traumwelt im fernen Lande. Zu ihren persönlichen Gästen zählte indes die weltweite Prominenz, die ihre weltentrückten Anschauungen teilten und die Fotografien sammelten; so avancierte vor allem das Atelier des Wilhelm von Gloeden in Taormina zu einem illustren Treffpunkt für Künstlerkollegen wie Oscar Wilde, Marcel Proust und Richard Strauss. Zu den Auftraggebern von Guglielmo Plüschow zählte unter anderen der legendäre Schriftsteller und Baron Jacques d’Adelswärd-Fersen auf Capri, wohin Plüschow reiste, um dessen Geliebten Nino Cesarini kunstvoll in Szene zu setzen und fotografisch zu verewigen. Von Gloeden wurde zu Lebzeiten vielfach ausgezeichnet und publiziert. Er beteiligte sich an den renommierten Weltausstellungen, was ihm internationalen Ruhm verschaffte.
Posthum finden immer wieder vereinzelt Ausstellungen der Fotografen statt. Die historischen Originalwerke befinden sich in internationalem Museums- sowie Privatbesitz berühmter Häuser und Persönlichkeiten.
1977 wurden einige Motive des Wilhelm von Gloeden in der Abteilung für Fotografie auf der documenta 6 in Kassel gezeigt, was nicht zuletzt für eine Wiederbelebung seiner in den Wirren des Krieges verschollengegangen zu scheinender Werke sorgte.
Joseph Beuys und Andy Warhol trugen ebenfalls zur Popularisierung im 20. Jahrhundert bei, indem sie ausgewählte Motive des Wilhelm von Gloeden zu ihrem eigenen Kunstgegenstand machten, dabei von den sichtbaren Überresten eines antiken Zeitalters fasziniert waren und gleichzeitig den revolutionären Geist hinter den Bildern herausarbeiteten. Nicht zuletzt Picasso verfügte in seiner umfangreichen Fotografiesammlung über eine Auswahl an originalen Abzügen aus der Hand von Guglielmo Plüschow und Wilhelm von Gloeden, welche ihm nachweislich als Vorlage für seine Gemälde dienten.

Die Magie jener Fotografien reicht bis in die Gegenwart. Sie sind begehrte Sammlerobjekte und finden immer wieder medialen Einzug. Der britische Star-Designer Jonathan Anderson verwendete die Motive beider Fotografen für die von ihm kreierte Herbst-Winter-Kollektion 2018 der spanischen Luxusmarke LOEWE und auch die Kampagnen GUCCIs zitieren augenscheinlich jene Motive.

Wird der Traum der Fotografen und ihrer Sehnsucht nach einem irdischen Paradies gar im Digitalzeitalter, wo der Pose die Poesie immer mehr entweicht, und in einer Ressourcen ausgeschöpften Welt, in welcher uns der Bezug zur Natur immer mehr abhanden gekommen ist, umso bedeutungsvoller?